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Aus der Geschichte Kiel-Gaardens

Der beste Matjes-Salat der Welt

Eine Kindheitserinnerung aus der Iltisstraße



Wer das kleine Fischgeschäft von Emilie Totte betreten wollte, der musste sich drei Stufen-hinunter ins Souterrain des Hauses Kirchenweg Nr. 36 begeben – und zwar von der Iltisstraße aus - denn das Haus war und ist ein Eckhaus. Der Verkaufsraum, vollgestellt mit einem winkeligen Tresen und einigen Holzfässern sowie einer Stellage für die Fischkisten, war nur so um die 25 Quadratmeter groß. Zum Laden gehörte noch ein weiterer Raum, der aber durch eine immer geschlossene Tür der Kundschaft keinen Einblick gewährte. Es roch nach frischem Fisch und Essiggurken – keine Spur von „Fischgestank“. Der Laden, dessen Wände halbhoch und sehr gelb gefliest waren, zeigte sich appetitlich und sauber, wenn auch etwas feucht und kalt. In Holzfässern lagerten Salz- und Gewürzgurken sowie Sauerkraut. Frischfisch wie Makrelen, Heringe oder Rotbarschfilets stand in braun-gelben Fischkisten zum Verkauf bereit.
Hinter dem Tresen auf der linken Seite, der mit einem Glasaufsatz als Verkaufs- und Präsentations-Installation gedacht war, bediente Emilie Totte mit schneeweißer Kittelschürze, die sie so elegant trug, als wäre es ein prunkvolles Ornat, ihre Kunden. Sie war eine recht stabil aussehende, freundliche Frau mittleren Alters. In meiner Erinnerung war Frau Totte eine beeindruckende Erscheinung, die mich sechsjährigen Jungen immer lächelnd ansah und stets mit netten Worten begrüßte.
Mit einer bunten, im Grundton hellgrauer Kittelschürze und der wohl unvermeidlichen, hässlich schwarzen Gummischürze bekleidet, Fische schlachtend oder Fischsalate herstellend, werkelte an der anderen Ecke des Tresens die Mutter von Emilie Totte. Hier ließ diese kleine alte Frau mit einer spärlichen, grauhaarigen Dutt-Frisur versehen, in feiner Handarbeit den für mich besten Matjes-Salat der Welt entstehen.
Matjesheringe wurden aus hellem Holz gefertigten Fässern verkauft, die schon äußerlich auf ihren Inhalt durch eine leichte Nässe hinwiesen. Das waren keine fertigen oder vielleicht sogar aus Holland importierte Filets, sondern ganze Heringe mit Gräten, Schwanz und Flossen. Da musste noch reichlich geputzt werden.
Matjesheringe als „ganze“ Fische kamen stets mit Pellkartoffeln auf den Tisch. Bei uns zu Hause gab es sehr oft Heringe. Denn die waren sehr billig – damals in den 1950er Jahren. Frische Heringe, die wir selbstverständlich auch bei Frau Totte kauften, wurden gebraten und heiß aus der Pfanne verzehrt. Als Kind schaffte ich schon drei Stück. Die Heringe, die nicht gegessen wurden, legte mein Vater dann in eine Essiglake ein. Nur er kannte das optimale Rezept dafür. Das hatte er von seiner Mutter. Den wunderbaren besten Matjessalat der Welt von Totte gab es abends auf Schwarzbrot – für mich auch schon als Kind ein Festessen.
Irgendwann am Ende der 1950er Jahre starb die alte Frau Totte und Emilie nahm sich eine Hilfe ins Geschäft. Sie übernahm ab jetzt persönlich die Herstellung der Salate. Noch heute sehe ich die Emilie vor mir, wie sie an dem hölzernen Ladentisch die einzelnen Fischstücke mit zerhackten Zwiebeln, kleingeschnippelten Gurken, Essig, Öl und anderen, wohl für den Geschmack sehr wichtigen Zutaten vermischte. Das Rezept, wie der Matjessalat seinen wunderbaren Geschmack bekam, blieb dabei immer ein Geheimnis.

Unvergesslich ist mir auch die Ladenhilfe geblieben, die nach dem Tod der Mutter nun hinter dem Verkaufstresen stand und alle anderen Arbeiten übernahm, wie das Schlachten der Fische oder die Reinigung des Fischgeschäftes. Sie hieß Lore und war so stark sehbehindert, dass sie eine Brille mit ganz dicken, glasbausteinartigen Gläsern trug. Wenn ich sie ansah, konnte ich ihre Augen kaum durch diese Brille erkennen. Dabei musste ich sie, fasziniert von dieser Brille, immer wieder ansehen.

Eine Begegnung der unvergesslichen Art hatte ich einmal mit Lore, als ich - jetzt bereits zehnjährig – Senf kaufen sollte. Meine Mutter hatte mir ein kleines Glas ohne Deckel und zwanzig Pfennige in kleinen Münzen gegeben. Der Einfachheit halber habe ich die Münzen in das Glas getan und mich dann die Treppen hinunter über die Straße hinab in den Fischladen begeben. Als ich den Laden betrat, hat Lore mich nicht erkannt. Sie hat mich etwas mürrisch angeblinzelt und gefragt, was ich denn wolle.
Dass Emilie nicht im Geschäft war, empfand ich als unangenehm und stellte etwas kleinlaut mein Glas mit dem klingelnden Kleingeld auf den mich überragenden Glasaufsatz des Verkaufstresens. „Ich soll für zwanzig Pfennig Senf holen“, sagte ich und schaute der Lore blinzelnd auf die dicken Brillengläser, um dahinter die Farbe der Augen genauer zu erkennen.
Lore drehte sich um und füllte den Senf – es gab nur eine Sorte – aus einem keramischen Behälter auf dem „Petersens Senf“ stand, pumpend in mein Glas. Dass darin noch das Geld war, hatte Lore nicht wahrnehmen können. Und somit versenkte sie alle die kupfernen Münzen unsichtbar unter die glitschige, hellbraune, mittelscharfe Masse.
Der Ärger danach blieb jedoch gering. Meiner Mutter war das zwar alles sehr peinlich und so hat sie dann am nächsten Tag den Senf noch einmal bezahlt. Sie wollte doch nicht wieder wie in den frühen Nachkriegsjahren Schulden machen und bei Frau Totte anschreiben lassen.
Neben dem kleinen bemerkenswerten Fischgeschäft im Souterrain des Hauses Kirchenweg Nr. 36, beherbergte das Erdgeschoss einen Eckladen, der früher von einem Lebensmittelhändler namens Kaul genutzt wurde. Nachmieter von Kaul wurde ein gewisser Schieferdecker, der das Haus dem Besitzer Jensen abkaufte. Irgendwann, es muss wohl nach 1960 gewesen sein, kündigte Anton Schieferdecker wegen „Eigenbedarfs“ Emilie Totte, so dass sie notgedrungen mit ihrem Fischgeschäft umziehen musste.
Einmal habe ich sie noch besucht – selbstverständlich um wieder Matjessalat zu kaufen. Frau Tottes kleiner gewordene Geschäft befand sich jetzt in einem anderen Haus im Kirchenweg, nahe der Reeperbahn. Um in den Laden zu gelangen, musste ich jetzt zwei Stufen hochgehen. Frau Totte war wieder sehr freundlich. Sie sagte zu mir, dass sie sehr enttäuscht wäre über die Kündigung des Herrn Schieferdeckers. Als ich ihren kleinen Notlösungs-Fischladen wieder verließ, da lächelte sie mir etwas traurig hinterher.
Das ist nun alles schon über fünfzig Jahre her. Aber immer dann, wenn ich Matjessalat esse, messe ich die Qualität an der des besten Matjessalates der Welt und dann denke ich an das Lächeln der Fischfrau Emilie Totte, an ihren wunderschönen Fischladen in der Iltisstraße.
Kiel, im Dezember 2013
Walter Ehlert

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